Karmapas Vesak-Botschaft 2022

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Thaye Dorje, Seine Heiligkeit der 17. Gyalwa Karmapa, sendet die folgende Botschaft anlässlich des Vesak-Festes 2022.


Liebe Dharma-Freunde,

Am kommenden Montag, dem 16. Mai, ist der Vesak-Tag (auch Buddha Jayanti oder Buddha Purnima genannt) – das buddhistische Fest, das der Geburt, der Erleuchtung und des Parinirvana unseres historischen Buddha Shakyamuni gedenkt.

Natürlich sagt uns Samantabhadras König der Wunschgebete (das dem Gaṇḍavyūha-Kapitel des Avatasaka-Sutra entnommen ist und dessen Essenz zusammenfasst), dass es in jedem Teilchen in unserer Welt so viele reine Welten gibt, wie es Atome im Universum gibt, und dass in jedem dieser reinen Bereiche Myriaden von Buddhas und Bodhisattvas wohnen.
 

Dies ist nicht nur eine Analogie – es beschreibt, wie die Dinge tatsächlich sind. Aufgrund der Begrenztheit unserer menschlichen Voraussetzungen sind wir jedoch nur in der Lage, die Dinge einzeln und auf lineare Weise wahrzunehmen, und dementsprechend sprechen wir von einer Reihe historischer Buddhas, die einer nach dem anderen erscheinen.
 

Und natürlich haben wir in unserer heutigen Zeit das Glück, uns als Schüler eines dieser zahllosen Buddhas bezeichnen zu können: desjenigen, der sein Leben als Prinz Siddharta begann, unter dem Bodhi-Baum in Bodhgaya vollkommenes Erwachen erlangte und danach als Buddha Shakyamuni bekannt wurde.
 

Als Buddhisten sehen wir Vesak als den heiligsten Tag des Mondjahres an und tun unser Bestes, um ihn mit so viel Offenheit wie möglich zu feiern.
 

Wir erinnern uns an die Lehre des Buddha und versuchen, diesen Tag zu nutzen, um so viel wie möglich davon umzusetzen.
 

Ich denke, dass eine der praktischsten und nachvollziehbarsten Möglichkeiten, diesen Tag zu begehen, darin besteht, sich auf die Praxis der Zuflucht zu konzentrieren. Ich glaube, dass die meisten von Euch wohl die buddhistischen Zufluchtsgelübde von einem Ihrer Lehrer erhalten haben.
 

Die Zufluchtnahme bezeichnet den ersten Schritt auf dem buddhistischen Pfad und ist auch die Grundlage für die gesamte Reise. Ein Individuum, das diesen Weg betritt – indem es Zuflucht zu Buddha, Dharma und Sangha nimmt – verspricht, untugendhafte Handlungen aufzugeben, was die eigentliche Grundlage für die Reise zur Befreiung und zum vollkommenen Erwachen, der Buddhaschaft, ist.
 

Deshalb möchte ich Euch alle ermutigen, den Vesak-Tag zu begehen, indem ihr Euch auf die Zufluchtspraxis konzentriert, und rezitiert sie bitte auch zusammen mit Samantabhadras König der Wege des Strebens.
 

Das ist es, worum ich alle meine Mitpraktizierenden ersuchen möchte.
 

Außerdem möchte ich diejenigen von euch, die mit der Sojong-Praxis vertraut sind, die in der Vergangenheit die Sojong-Gelübde abgelegt und Erklärungen dazu erhalten haben, dazu ermutigen, den Vesak-Tag dieser Praxis zu widmen.
 

Wie immer gilt: Versteht diesen Vorschlag von mir bitte nicht als Befehl, als Anweisung, die Ihr angehalten seid zu befolgen. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass Viele von Euch einen sehr vollen Terminkalender mit unzähligen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten haben.
 

Aber wenn ihr Euch inspiriert fühlt und die Zeit und Gelegenheit habt, dann möchte ich Euch ermutigen, Euch für einen Zeitraum von 24 Stunden – von einem Sonnenaufgang zum nächsten – dieser Praxis zu widmen.
 

Ich glaube, dass sie von großem Nutzen ist, denn sie gibt uns die Möglichkeit, eine Art von Stille einzuhalten; zumindest für einen Tag im Jahr. Ich spreche hier nicht nur von verbaler Stille, sondern auch von der Stille der Gedanken.
 

Wenn wir dieser Praxis nur 24 Stunden lang widmen, können sich unser Körper, unsere Rede und unser Geist von der üblichen Betriebsamkeit erholen. Ich will damit nicht sagen, dass unsere sozialen Pflichten und die verschiedenen Verantwortlichkeiten, die wir in unserem Leben haben, unwichtig oder bedeutungslos sind. Ganz und gar nicht – sie haben mit Menschen zu tun, mit Individuen, mit Gemeinschaften, mit der Gesellschaft – deshalb sind sie natürlich wichtig.
 

Es ist nur so, dass, wenn wir durch diese Praktiken eine größere Klarheit der Sichtweise und tiefere Einsicht erlangen könnten, unsere sozialen Verpflichtungen immer weniger schwierig und belastend werden würden.
 

Soziale Pflichten und Verantwortlichkeiten sind ein wesentlicher Bestandteil des Menschseins, aber es ist möglich, sie auf die am meisten entspannte und die natürlichste Art und Weise zu erfüllen, ohne Ängste oder Vorbehalte. Vielleicht wird das, was ich hier zu vermitteln versuche, leichter zu verstehen sein, wenn ich die Analogie der Sonne und ihrer `Pflichten und Verantwortlichkeiten´ verwende. Bildlich gesprochen gehört es zu den Aufgaben der Sonne, jeden Morgen auf-, jeden Abend unterzugehen und Pflanzen, Tieren und Menschen gleichermaßen Wärme und Leben zu spenden. Und die Sonne geht der Erfüllung dieser `Pflichten´ tagein, tagaus nach, ohne jemals hängen zu bleiben oder gestresst zu sein, ohne irgendwelche Probleme zu haben.
 

Das ist meiner Meinung nach einer der Vorteile dieser Praxis – sie ermöglicht es uns, mehr wie die Sonne zu werden: Sie hilft uns zu funktionieren, auf- und unterzugehen, zu leben und zu sterben, ohne sich festzufahren, ohne Angst, ohne Probleme.
 

Natürlich gibt es, wenn man Sojong nicht am Vesak-Tag selbst praktizieren kann, immer noch den nächsten Tag, und wenn nicht, dann den Tag danach. Es wird also immer eine neue Gelegenheit geben.
 

Für diejenigen unter Euch, die noch nicht mit der Sojong-Praxis vertraut sind, würde ich vorschlagen, dass es eine gute Erfahrung sein könnte, sie irgendwann zu versuchen, wenn sich die Gelegenheit dazu ergibt. Schließlich probiert jeder gerne neue Dinge aus, und die Sojong-Praxis erfordert keine große Anstrengung oder Mühe – sie ist einfach, friedlich und angenehm.
 

In diesem Zusammenhang möchte ich ein paar Überlegungen zu zwei Themen anstellen, die meiner Meinung nach manchmal zu Missverständnissen führen können.
 

Das erste ist der Begriff `Gelübde´ und die Konnotationen, die er mit sich bringt. Dieses Wort – genau wie sein tibetisches Gegenstück sdom pa – scheint einen Beiklang der Einschränkung, des Verschließens oder der Bindung zu transportieren; und ich denke, das kann uns eine falsche Vorstellung vermitteln. Nicht, dass an dem Begriff sdom pa selbst etwas falsch wäre – was das `Binden´ oder `Schließen´ tatsächlich impliziert, ist das Verschließen der Türen unseres Körpers, unserer Rede und unseres Geistes für Nicht-Tugenden.
 

Dennoch ist die Art und Weise, wie bestimmte Begriffe wahrgenommen werden, sehr stark vom Geist der Zeit, in der wir leben, der zeitgenössischen Mentalität und den vorherrschenden Trends abhängig. So mag es für frühere Generationen vollkommen zulässig und sogar inspirierend gewesen sein, vom `Schließen der Tür zu den Untugenden´ zu hören. Das ist eine klare und bodenständige Art, die Gelübde zu beschreiben.
 

Die heutige Zeit, die von Modernität, Umweltfragen und Globalisierung geprägt ist, hat jedoch sowohl ihre eigenen Vor- als auch ihre eigenen Nachteile. Einerseits haben wir mehr Freiheit und Möglichkeiten als je zuvor, andererseits aber stehen wir vor so vielen Wahlmöglichkeiten, so viel Stress und einer noch nie dagewesenen Anzahl von Aufgaben und Herausforderungen. Ich habe den Eindruck, dass der heutige Zustand der Menschheit derart ist, dass wir keinen Raum haben, um über Probleme oder Herausforderungen zu sprechen. Wenn wir also davon hören, dass wir `die Tür zu den Nicht-Tugenden schließen´ usw., fühlen wir uns vielleicht nicht ermutigt oder inspiriert. Als Kinder unserer heutigen Zeit hören wir immer gern von der hellen Seite der Dinge, von ihren positiven Aspekten, ihren schönen Anteilen.
 

Glücklicherweise hat der tibetische Begriff sdom pa – wie so viele Dharma-Begriffe – eine breite Palette von Bedeutungen, Beiklängen und Konnotationen. Und so können wir uns einfach auf die Kehrseite der Medaille konzentrieren und uns eine andere Nuance erschließen, die vielleicht für unsere Zeit angemessener ist, und das könnte sehr wohl so etwas wie `Entbinden´ sein. Immerhin öffnet sich jedes Mal, wenn wir eine Tür schließen, eine andere; und da wir immer lieber von der positiven Seite der Dinge hören, fühlen wir uns vielleicht motivierter und inspirierter, wenn wir uns den Gelübden oder dem sdom pa aus dem Blickwinkel des Öffnens, des Entbindens nähern.
 

Dies kann uns dabei helfen, ein Gefühl dafür zu bekommen, dass der Zweck der Gelübde oder jeder anderen buddhistischen Praxis nicht darin besteht, uns einzuschränken, zu verschließen oder zu fesseln. Ganz im Gegenteil: Alle Praktiken des Buddha-Dharma sind dazu gedacht, uns zu befreien, uns loszubinden, unser Herz zu öffnen.
 

Wer weiß, vielleicht werden wir mit der Zeit einen neuen Begriff finden – oder vielleicht wird der nächste Buddha ein neues Wort anstelle von `Gelübde´ erfinden. Aber ich denke, das wir sie, wenn es Sinn macht und nur vorläufig, nicht als `Gelübde´, sondern als `Entbindungen´ bezeichnen sollten.
 

Der zweite Punkt, über den ich kurz sprechen möchte, ist das Gefühl der Mission, das wir oft in unsere Dharma-Praxis einbringen.
 

Ich habe mich immer vom Anfang des Bodhicaryāvatāra inspiriert gefühlt, wo Śāntideva sagt, dass er dieses Werk nicht um Anderer willen verfasst, sondern zu seinem eigenen Nutzen. Wenn er das äußert, heißt das nicht, dass er kein Bodhicitta hat; auch ist er nicht bloß bescheiden. Er ist einfach praktisch, bodenständig und übertreibt nicht. Er tut schlichtweg das, was er tut, und er hat Freude daran, es zu tun. Es gibt also kein Gefühl einer Last, einer Sendung, warum er diesen Text verfasst. Er tut es nicht für Ruhm und Ehre oder um die Welt zu retten.
 

Jeder von uns, der einen klaren Geist hat, wird verstehen, dass die Welt einfach weitergeht und dass es keinen Grund gibt, sich zu viele Gedanken über einen persönliche oder kollektiven Auftrag zu machen, über die Rettung aller fühlenden Wesen oder die Rettung der Welt. Das sind nur Wege, um uns selbst zu motivieren, und wenn wir sie als hilfreich und inspirierend empfinden, dann können wir natürlich unsere Zufluchts- oder Sojong-Praxis in dieser Weise widmen.
 

Aber ich denke, dass es nicht nötig ist, große Transparente zu schwenken, riesige Plakate aufzuhängen oder mit Lautsprechern vom Dach zu verkünden, dass „ich meine Praxis der Rettung aller fühlenden Wesen widme“ oder der Rettung der Welt.
 

Für mich läuft das Alles nur darauf hinaus, weitere Unruhe hervorzurufen. Und wenn man solche Aufregung schafft, wenn man flucht und verspricht und schwört, dass „ich mich von diesem Moment an bis zu meinem letzten Tag der Rettung der Welt widmen werde“, dann mag sich das zwar in diesem Moment befreiend anfühlen. Aber in Wirklichkeit hat die Bedeutung dieser Unruhe nicht viel mit der Welt zu tun. Es wird nichts bewirken, außer dass man sich selbst unnötigen Stress, Last und Ängste aufbürdet.
 

Im Gegensatz dazu ist Śāntideva, der sich einfach an seinem Tun erfreut, so einfach und nachvollziehbar. Wenn man Freude an dem hat, was man tut, wird alles leicht: selbst wenn man die Welt retten muss, wird es leicht.
 

Im Chinesischen ist das Wort für `freudig´ oder `glücklich´ kāixīn – was wörtlich `offenes Herz´ bedeutet.
 

Und ich denke, das ist der eigentliche Zweck der Praxis von Gelübden: uns von Bindungen zu befreien und uns zu helfen, unser Herz zu öffnen.
 

Deshalb, liebe Dharma-Freunde, wünsche ich Euch Allen an diesem Vesak-Tag, dass ihr Euch etwas Zeit nehmen könnt, die Praxis des Buddha-Dharma zu nutzen, um Freude zu finden und Euer Herz zu öffnen.
 

Mit Gebeten

Thaye Dorje, Seine Heiligkeit der 17. Gyalwa Karmapa


www.karmapa.org
 

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