Karmapa antwortet weiter auf Fragen von Schülern, diesmal mit einer Belehrung über Sangha und Miteinander - 20.09.2020.

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20.09.2020

Thaye Dorje, Seine Heiligkeit der 17. Gyalwa Karmapa, antwortet weiter auf Fragen von Schülern, diesmal mit einer Belehrung über Sangha und Miteinander.



Die Bedeutung von `Sangha´ oder `Gedun´ (eine Kombination aus `Gewa´ und `Dunpa´) im Tibetischen ist in etwa `motiviert durch Verdienst´.

`Dunpa´ wird ins Deutsche oft als `Streben´ oder `Motivation´ übersetzt. `Verdienst´, `Tugend´, `Güte´ oder `Freundlichkeit´ sind gebräuchliche deutsche Begriffe, die wir für das tibetische Wort `Gewa´ haben. Diese tibetische Bezeichnung hat möglicherweise eine gewisse Verbindung zu einem anderen tibetischen Begriff – `Dewa´ – einer Übersetzung des Sanskrit-Terminus `Sukha´, den man ins Deutsche in etwa mit ` Süße´ oder `Annehmlichkeit´ übersetzen würde. Wir wissen jedoch nicht genau, was `Sukha´ wirklich ist, denn diese `Süße´ wird nicht allein über physische Wahrnehmung definiert.

Verwenden wir aber diese Begriffe in Zusammenhang mit einem Gegensatz zwischen `Ereignissen´ und `Taten´, dann könnte das beginnen, irgendwie Sinn zu ergeben.

Wenn wir von `Ereignissen´ – im Gegensatz zu `Handlungen´ – sprechen, dann ist das eine Art, etwas zu beschreiben, das von selbst geschieht; zum Beispiel scheint die Sonne von selbst aufzugehen und zu scheinen, das Herz scheint von selbst zu schlagen, unsere Atmung scheint von selbst zu geschehen, usw.

Wohingegen `Tun´ das Gegenteil ist. `Tun´ suggeriert etwas, das geschieht, wenn es von `jemand Anderem´ getan wird. Wer auch immer dieser `Andere´ sein mag: Wenn wir von `Taten´ sprechen, ist das eine Art zu sagen, dass es nicht von selbst geschieht, dass jemand Anderer oder etwas Anderes es tut. Zum Beispiel zwingt einen etwas oder jemand dazu, schneller oder langsamer zu atmen.

Von dieser Perspektive des Gegensatzes her können wir uns also irgendwie auf Motivation beziehen – `Gedun´, was `Motivation durch Verdienst´ bedeutet.

`Motivation´ ist ein Begriff, der in gewisser Weise zum `Macher´ (zur Kategorie der `Taten´) gehört. Das Verdienst oder `Gewa´ führt zu dem Zustand, der `Dewa´ oder `Sukha´ genannt wird.

Nehmen wir also an, dass wir jene sind, die motiviert sind; diejenigen, die denken, dass sie Dinge tun – obwohl, wenn wir wegzoomen und uns selbst aus dieser Perspektive betrachten, auch wir `Ereignisse´ sind.

Es ist nur so, dass der menschliche Zustand derart ist, dass wir die Möglichkeit haben, die Ereignisse als Taten zu betrachten.

Aber wenn wir diese dem menschlichen Zustand innewohnende Bedingung oder Gelegenheit nicht erkennen, neigen wir dazu, die Ereignisse als chaotisch und unwissend zu betrachten und sie zu etwas zu degradieren, auf das herabgeschaut wird – als ob die Geschehnisse etwas wären, das wir unterwerfen müssten.

Und den Handelnden – uns – als überlegen und organisiert. Diese Art von eingeschränkter Erkenntnis führt dann nicht nur zur Unterwerfung der Natur, sondern auch von uns selbst, der Menschheit.

Dann wird, wenn diese begrenzte Erkenntnis zur Gewohnheit wird, langsam und letztendlich auch das Verständnis von `Sangha´ seltsam. `Sangha´ wird dann zu einer Art Gruppenzwang, zu dem wir ein Gefühl der Zugehörigkeit empfinden können.

Dieses Bedürfnis dazuzugehören basiert auf unserer seltsamen und beschränkten Sichtweise, `Taten´ wie auch `Ereignisse´ nicht lediglich als Konzepte zu erkennen und obendrein einen dieser Gegensätze als besser als den anderen oder als ihm überlegen anzusehen.

Infolgedessen scheinen wir als `Handelnde´ gegen die Macht der `Ereignisse´ klein zu sein, und haben daher das Bedürfnis, gegen diese chaotischen Geschehnisse Schulter an Schulter in einer Gruppe namens `Sangha´ zusammenzustehen. Natürlich gibt uns eine solche Sicht das romantische Gefühl, es mit einer überwältigenden Kraft zu tun zu haben.

Aber das ist einfach eine sehr emotionale Denkweise.

Wäre es nicht schön, wenn wir noch etwas länger Schulter an Schulter ausharren könnten? Selbst wenn es nur für ein paar Augenblicke wäre.

Aber die Wahrheit ist, dass wir das nicht können.

Nicht, weil wir es nicht sollen, sondern weil es einfach nicht geht.

Diejenigen, die verstehen, was Sangha wirklich bedeutet (die verwirklichte Sangha), unternehmen keine Anstrengungen, um so zu bleiben.

Da sie erkennen, dass alles, was zusammenkommt, unweigerlich getrennter Wege gehen muss, lassen sie bewusst das Erscheinen einer Ansammlung oder Gruppe sein.  

Weil sie sehen, dass es keine Essenz gibt; es gibt über die Erscheinung hinaus keine `wirkliche Gruppe´.

Als Vajrayana-Sangha scheint es das Ziel zu sein, das bewusst sein zu lassen.

Wir wissen nicht wirklich, ob wir Teil irgendeines Yana sind, aber wenn wir gerne glauben, dass wir es sind, dann ist das umso mehr ein Grund, zumindest danach zu streben, nach der Art der verwirklichten Sangha zu leben.

Warum? Warum können wir nicht einmal für eine kleine Weile Schulter an Schulter verweilen?

Nun, das Gütige daran, in die Fußstapfen der verwirklichten Sangha zu treten, ist, dass wir eine bessere Chance haben, `Schulter an Schulter´ zu bleiben, wenn wir auf ihre Weise praktizieren.

Wenn es in der Natur der Realität läge, Schulter an Schulter bleiben zu können, dann würde es so funktionieren. Aber weil die Realität nicht so ist oder sie in irgendeiner Weise eingeschränkt ist, ist es in Wirklichkeit ein liebevoller Umgang miteinander, die Dinge gemäß der Realität sein zu lassen; der Realität, nicht verweilen zu können – nicht einmal für einen Augenblick.

Wir versuchen so sehr, zusammen zu bleiben, nicht wahr?

Wir sind mit unseren biologischen oder nicht-biologischen Gruppen oder Familien aufgewachsen, also gibt es natürlich einen Anschein, ein Erscheinungsbild, zusammenbleiben zu können. Und so haben sowohl wir und unsere Familien als auch wir selbst uns darin verrannt zu denken, dies wäre einfach der Weg; und wir sind wie aus dem Nichts bis heute hängengeblieben.

Deshalb verwirrt es uns, wenn wir jemanden hören oder sehen, dem es ganz gut zu gelingen scheint, loszulassen.

Als ob das nicht möglich wäre.

Als ob wir beten: „Bitte sag mir, dass das nicht so ist; bitte sag mir, dass wir uns nicht trennen müssen."

Aber wenn wir uns erlauben, aus dieser Begrenzung des Bedürfnisses nach Zusammenbleiben auszubrechen, dann sind wir tatsächlich zusammen.

Daher beruht die wirkliche oder nächstliegende Bedeutung von `Sangha´ keineswegs auf Gruppenzwang.

Stattdessen ist `Sangha´ ein Weg, bewusst loszulassen.

Das ist fast so, als würden wir uns ergeben. Aber anstatt uns ohne Wahlmöglichkeit zu unterwerfen, lassen wir bewusst los.

Ich denke, das ist eine Tugend.

Das ist Verdienst.

Wenn wir uns also zu dieser Tugend motivieren, dann können wir vielleicht – nur vielleicht – Trost darin finden, in einer Sangha zu sein.

Es gibt keinen Club oder keine Gruppe namens `Sangha´, in der alle Erleuchteten auf ewig zusammengepfercht sind.

Das wäre meines Erachtens unerträglich.

Nehmen wir beispielsweise den `Ereignis´-Aspekt unseres Sonnensystems: Es kreist in den Spiralarmen der Milchstraße, aber es versucht nicht, sich an sie zu binden oder von ihr abzuschwenken.

Aber sie ist da – zumindest dem Anschein nach – und diese Erscheinung macht ihr Ding. Sie sieht aus wie eine Gruppe, aber nur dem Erscheinungsbild nach.

In Wirklichkeit ist es weder eine Gruppe noch das Gegenteil.

Aber sie hat keine Bedenken, als Gruppe aufzutreten.  

Wenn ich sage „Lasst es sein", dann meine ich das nicht so, als wäre es mir egal.

Sondern „Lasst es sein" in einer bewussten Art und Weise, aus Fürsorge heraus.

Wenn uns danach ist zusammenzubleiben, dann lasst uns bewusst zusammenbleiben, im Gewahrsein davon, dass die Erscheinung davon zusammenzubleiben ein anderer Weise ist, auseinanderzugehen.

Lasst uns die Erkenntnis entwickeln, dass es nur ein nützlicher, vorübergehender Trost ist, in einer `Sangha´ zu sein; genau wie eine Verschnaufpause, bevor wir akzeptieren, dass es wirklich nie irgendeine `Sangha´ gegeben hat.

Auf diese Weise gibt es keine wirkliche Grundlage für Angst.

Quelle: https://www.karmapa.org/meditations-for-our-times/

#Karmapa

 

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