Mahamudra, das Große Siegel, ist die zentrale Praxis in allen Kagyü-Traditionen und Lama Gendün Rinpoche (1918-1997) war wohl jemand, dessen Leben ein eindringliches Beispiel dafür war, wie sie zu verwirklichen ist.
Bereits vor und nach seiner Flucht vor den chinesischen Invasoren hatte er dreißig Jahre lang in Tibet und Indien in Zurückgezogenheit meditiert, bevor der 16. Karmapa ihn 1974 damit beauftragte nach Frankreich zu gehen um dort den Dharma zu lehren. Gendün Rinpoche gründete zuerst das Dharma-Zentrum Dhagpo Kagyü Ling in der Dordogne, dem viele weitere Klöster, Klausur- und Zurückziehungsstellen für Angehörige der monastischen Sangha wie auch für sogenannte Laienpraktizierende folgten. Bis zu seinem Tod widmete er sich unermüdlich der Aufgabe, den authentischen Dharma an die Menschen im Westen weiterzugeben.
Dieser Band enthält Belehrungen zu den Vier Grundgedanken, die den Geist auf den Dharma ausrichten, über Zuflucht und das Entwickeln des Erleuchtungsgeistes zum Wohl aller fühlenden Wesen, zu Karma, den Lehren des Geistestrainings, der Lehrer-Schüler-Beziehung, vor allem aber zu Meditation im Sinne von Ratschlägen, auch im Umgang mit dabei auftauchenden Erfahrungen. Gendün Rinpoche zeigt hier auch jene Gefahrenstellen in der Praxis auf, wo Halbherzigkeit, Inkonsequenz und Mutlosigkeit uns besonders häufig auflauern. So weist er z.B. mehrfach darauf hin, dass wir uns gerne auf die höchsten Lehren über die Natur des Geistes stürzen und erst später vielleicht irgendwann begreifen, dass wir zunächst vielleicht die Vorbereitenden Übungen (Ngöndro) praktizieren sollten. „In dieser Hinsicht sind wir ein wenig wie Kinder, die einen schönen Gegenstand, sobald sie ihn sehen, gleich haben möchten…“ warnt er eindringlich. Seiner Meinung nach kommt es nur dann zu Problemen auf dem Weg, wenn unsere Motivation mangelhaft ist, d.h. wir keinen eindeutigen Entschluss gefasst haben, ihn konsequent zu gehen. Andererseits betont er auch, es sei nötig die spirituelle Arbeit im eigenen Rhythmus anzugehen, im Einklang mit sich selbst und den eigenen Fähigkeiten. Es geht also nicht um abrupte Veränderungen (die dann womöglich nicht lange vorhalten), sondern um stetiges, ausdauerndes Bemühen, das auch eine gewisse Flexibilität und Toleranz uns selbst gegenüber erfordert. Härte an den Tag zu legen sei bei solch einer Arbeit völlig unangebracht.
Mehrfach in den Text eingestreut sind kleine Gedichte und Wurzelanweisungen, Ratschläge für Praktizierende, die den Dharma „auf den Punkt“ bringen. Der abschließende Teil des Buches befasst sich mit der Vorbereitung auf Sterben und Tod.
Auch, wenn kein Text geeignet ist ohne unterstützende und korrigierende Anleitung durch einen Lehrer Mahamudra zu vermitteln: Als Einführung und Überblick in diesen spirituellen Lehrpfades ist dieses Buch in seiner praktischen Umsetzbarkeit ein echter Klassiker, den man immer wieder zur Hand nehmen wird.
Dr. Georg Schober