Karmapas Gedanken zu Neid - 03.11.2020

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03.11.2020
 

Karmapas Gedanken zu Neid
 


Meine Gedanken ... zu Neid

Ist es nicht merkwürdig zu sehen, wie wir manchmal, gleichsam aus dem Nichts, plötzlich neidisch auf die unvorhergesehensten Dinge werden können? Wie können wir – aus heiterem Himmel – diese Emotion oder dieses Gefühl von „Ich wünschte, ich hätte das“ entwickeln?

Und ist es nicht ebenso seltsam zu beobachten, wie dieser Neid das Potential hat, sich in Eifersucht zu verwandeln, die dann das Risiko in sich birgt, zu etwas noch Bösartigerem und potenziell Zerstörerischem zu werden, nämlich dem Gefühl: „Wenn ich es nicht haben kann, sollte es auch niemand anderer haben“?

Diese Situation des Menschseins, auf die wir uns gegenwärtig stützen, bietet eine Plattform für das Empfinden von einer Fülle von Emotionen und daher kann man mit Sicherheit sagen, dass es für uns ganz natürlich ist, Neid zu empfinden.

Wenn wir das Gefühl von Neid erforschen, sehen wir, dass es vom Ausmaß her keine Grenzen hat; wir sind in der Lage, fast alles zu missgönnen, weit über die offensichtlichen Objekte von Neid hinausgehend.

Und was wir manchmal übersehen, ist, dass jedermann Neid erfährt: diejenigen, die auf dem Gipfelpunkt der menschlichen Existenz stehen (jene, die Alles zu haben scheinen), genauso wie diejenigen, die wir für die am meisten benachteiligten und unterprivilegierten Menschen halten.

Kurz gesagt, die Armen und die Reichen, die Vermögenden und die Mächtigen und jene, denen es an den grundlegendsten Bedürfnissen mangelt: Sie alle erfahren Neid, einfach weil sie alle die Gegebenheiten des Menschseins teilen. Alle Wesen in Samsara (einer zyklischen Existenz, die in ständiger Angst vor Kontrollverlust gelebt wird) durchlaufen ständig all diese Zustände; denn niemand bleibt für immer reich oder arm, mächtig oder machtlos.

Die sogenannte Befreiung, von der Buddhisten sprechen, bedeutet, aus diesem Kreislauf herauszukommen. In Übereinstimmung mit den gemeinsamen Erfahrungen der Bodhisattvas raten uns die Lehren, dass wir als Praktizierende lernen müssen, „mit unseren Emotionen zu arbeiten“.

Ist es also möglich, dass der Neid, den wir erfahren, eine dieser Emotionen ist, die wir uns zu Nutze machen können? Ist es möglich, dass wir uns diese Qualität – unseren Neid, der auf die offensichtlichste und natürlichste Weise vorhanden ist – bisher noch nicht erschlossen haben?

Vielleicht sind die Einzigen, die sie angezapft haben, die Bodhisattvas, sodass wir vielleicht etwas von ihnen lernen können.

Was erfordert das „Nutzen unseres Neides“?

Das beinhaltet zunächst einmal die Erkenntnis, dass es nichts Schlechtes ist, Neid zu erfahren. Es bedeutet nicht, dass mit uns etwas nicht stimmt. In gewisser Weise ist es genau das Gegenteil: Es besagt, dass wir gesund, leistungsfähig und lebendig sind.

Gleichzeitig bedeutet das aber nicht, dass wir dem nachgeben müssen. Wir könnten sogar versuchen, diesen Weg zu gehen und letztlich die erstaunlichste Reise haben. Wir werden feststellen, dass es – wohin wir auch gehen – keine Methode gibt, Neid zu überwinden.

Wenn wir reich werden, werden wir die Armen beneiden.

Wenn wir arm werden, werden wir die Reichen beneiden.

Wir werden also niemals Befriedigung finden, indem wir Neid nachgeben, egal wie weit wir es schaffen, zu gehen: genauso, wie wir niemals in der Lage sein werden, unseren Durst durch das Trinken von Salzwasser zu stillen.

Wie also gehen wir als buddhistische Praktizierende mit Neid um, wenn wir bis auf weiteres von diesem Menschsein abhängig sind?

Wir tun dies, indem wir unsere besondere Emotion von Neid als ein Signal nehmen, im Wissen darum, dass sie fixer Bestandteil der menschlichen Umstände ist.

An diesem Punkt mag es hilfreich sein, uns an die Praxis von Gleichmut zu erinnern.

Es gibt einen guten Grund, weshalb wir im Buddhismus ermutigt werden, Gleichmut zu üben: Das liegt daran, dass wir alle ein ganz grundlegendes, tief verwurzeltes Gefühl und eine Anschauung davon teilen, dass „dies ich bin; dies sind meine Gefühle; dies ist mein Körper“ – das, was wir gemeinhin als „Ego“ bezeichnen; das, was einen spüren lässt, dass „dies ich bin“.

Und wenn wir uns die Zeit dazu nehmen, stellen wir fest, dass genau so, wie wir diese Überzeugung fühlen, auch alle anderen ebenso empfinden, und es in dieser Hinsicht überhaupt keinen Unterschied gibt. Wir können also damit beginnen, diese gedankliche Logik zu verwenden, aber nur als eine Art Trittstein, um uns zur direkten Erfahrung und Erkenntnis zu verhelfen, dass dies keine Phantasie ist: Es ist vielmehr so real, wie es nur sein kann.

Lasst uns ein sehr einfaches, alltägliches Beispiel nehmen: Ihr seid mit einer Arbeitskollegin in der Bürocafeteria und habt eine Tasse Tee bestellt, während sie Kaffee trinkt.

Plötzlich bemerkt ihr, dass Ihr eigentlich auch lieber Kaffee trinken würdet, aber jetzt ist es zu spät, denn Eure Tasse Tee ist bereits bezahlt und steht vor Euch. (Natürlich könntet Ihr den Tee auch wegwerfen und stattdessen einen Kaffee kaufen, aber ich glaube, das wäre eher eine Art und Weise, dem Neid nachzugeben, statt mit ihm zu arbeiten).

Ihr müsst das Gefühl des Neids also nicht zurückweisen oder verdrängen, sondern lasst es stattdessen aufkommen, stellt ihm Euch und benutzt es als Auslöser, um dadurch Freude und Wertschätzung entstehen zu lassen: Ihr könnt tatsächlich daran Freude haben, dass Eure Kollegin diesen Kaffee trinkt, weil Ihr wisst, dass diese Person in der gleichen Situation ist wie ihr: An einem anderen Tag hätte sie vielleicht Tee bestellt, aber heute habt Ihr zufällig Tee bestellt und sie trinkt den Kaffee. In gewisser Weise ist das fast wie eine Last, die von Euren Schultern fällt: Ihr müsst Euch nicht die Mühe machen, den Kaffee zusätzlich zu Eurem Tee zu trinken, sondern jemand anderer genießt ihn für Euch.

Wenn Ihr erst einmal auf diese Art und Weise geübt habt, könnt Ihr eigentlich so ziemlich Alles genießen. In diesem besonderen Fall mag es sein, dass Ihr nicht in den vollen Genuss kommt, weil Ihr nicht den vollen Charakter des Kaffees schmecken könnt. Daher bekommt Ihr also vielleicht nur die Hälfte des konkreten Kaffeegenusses, aber darüber hinaus ist der Charakter des Genusses, an dem Ihr Euch erfreut, sogar noch größer, denn sie öffnet einen Teil von Euch, an dem Ihr anfangen könnt, Euch zu entspannen.

Natürlich geht es nicht nur um den Kaffee, sondern um sehr viel mehr als das: Ihr habt eine Tür zu einer neuen Quelle der Freude geöffnet, was sich auf fast Alles umlegen lässt: ein besseres Auto, ein besseres Haus, eine bessere Familie, einen besseren Lebensstil – all die Werte, die wir uns als Bestandteile von Glück vorstellen können. All dieses Zubehör von Freude und Glück, all die Leben, die wir uns nicht einmal vorstellen könnten: Sie alle können wir jetzt – mit Hilfe dieser neuen Methode – genießen, indem wir einfach anerkennen, dass andere sie für uns leben.

Wir machen also einfach weiter mit dem, was Menschen tun: Es ist normal, dass Menschen das Leben genießen, und wir können jetzt die Emotion von Neid nutzen, um uns an nahezu Allem zu erfreuen; auf eine sehr faule und sorglose Art und Weise, ohne dafür arbeiten zu müssen.
Wenn wir dadurch lernen, unseren Neid nutzbar zu machen und ihn als Signal zu verwenden, ist es möglich, Leben jenseits unserer Vorstellungskraft zu leben und das Alles innerhalb unserer einfachen menschlichen Existenz.

#Karmapa

Quelle: www.karmapa.org/my-thoughts/

 

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