Karmapas Gedanken über das Leben - 28.04.2022

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Thaye Dorje, Seine Heiligkeit der 17. Gyalwa Karmapa, teilt die folgenden Betrachtungen zum menschlichen Leben:

"Diese Freiheiten und Ausstattungen, die so schwer zu erlangen sind, wurden erworben, und sie bringen das Wohl Aller mit sich. Zieht man diese günstige Gelegenheit nicht in Betracht, wie könnte sich diese Chance wieder ergeben?

So, wie ein Blitz die Dunkelheit einer wolkenverhangenen Nacht für einen Augenblick erhellt, so wird auch der Geist der Menschen durch die Kraft der Buddhas gelegentlich für einen Augenblick zum Verdienst hin geneigt."

Aus: Ein Leitfaden zur Lebensweise der Bodhisattvas (Bodhicaryāvatāra) von Śāntideva.

Die Bildsprache von Śāntideva ist immer faszinierend. Seine Analogie des Blitzes in der zweiten Śloka ist etwas, auf das wir uns alle aus eigener Erfahrung beziehen können. Er beschwört das Bild einer pechschwarzen, stürmischen Nacht herauf, die so dunkel ist, dass man seinen Weg nicht finden, ja nicht einmal die Handfläche vor den eigenen Augen sehen kann. Und dann plötzlich erhellt ein Blitzstrahl diese dunkle Nacht, und lediglich für den Bruchteil einer Sekunde kann man seine Umgebung so deutlich sehen, als wäre es heller Tag.

Śāntideva benutzt diese Analogie hier, um die winzigen Momente tugendhafter, verdienstvoller Gedanken zu beschreiben, die in unserem Geist aufkommen, und er stellt sie als äußerst selten und schwer zu erlangen dar. Warum ist das so? Nun, es gibt so viele Ablenkungen in unserem Leben; so viele scheinbar wichtige Dinge, die Tag für Tag, Augenblick für Augenblick geschehen, und damit einhergehend kommen ständig störende Emotionen auf.

Aufgrund dieser endlosen Unruhe gibt es kaum einen Moment, in dem in unserem Geist Raum dafür da ist, dass auch nur der winzigste Anflug eines tugendhaften Gedankens aufkommt; die Chancen, dass ein solcher Moment sich ereignet, stehen eins zu einer Million! Aber wenn trotz aller Widrigkeiten ein solcher Moment eintritt, sagt uns Śāntideva, dass dies dem Streben, der Freundlichkeit und dem Segen der Buddhas zu verdanken ist.

Das ist also hier die offensichtliche Bedeutung. Aber als ich diese beiden Ślokas heute Morgen las und kontemplierte, dachte ich: „Was wäre, wenn wir Śāntidevas Analogie weiterführen würden, in eine andere Dimension, auf eine andere Ebene? Was wäre, wenn wir sie auf unsere gesamte menschliche Existenz beziehen würden?“

Ich will damit nicht sagen, dass Śāntideva nicht über die Kostbarkeit dieser menschlichen Existenz spricht – denn tatsächlich spricht die erste der beiden Ślokas in der Einleitung über die einzigartige Gelegenheit, die eine solche Wiedergeburt darstellt, und wie wichtig es ist, sie gut zu nutzen.

Dennoch möchte ich einige meiner eigenen Überlegungen dazu mitteilen, wie wir das Bild des Blitzstrahls auf unser menschliches Leben beziehen können, in der Hoffnung, dass es für einige von Euch bedeutsam sein könnte.

Wenn wir unser menschliches Leben mit anderen zeitlichen Maßstäben und Dimensionen vergleichen, müssen wir feststellen, wie kurz und befristet es ist.

Nehmen wir das Beispiel einer Galaxie und ihrer Lebensdauer: wie beeindruckend, wie erstaunlich, wie riesig sie ist!

Wie unbedeutend ist im Vergleich dazu das Leben der Menschen, selbst wenn wir die gesamte Menschheit als Kollektiv betrachten? Und warum sollte man dann überhaupt über das Leben eines einzelnen Individuums sprechen, über seine oder ihre Leistungen? Im kosmischen Maßstab betrachtet, bedeuten sie gar nichts; es gibt nichts Wesentliches an ihnen. Sie sind so kurz und unerheblich, dass es so ist, als hätte es sie nie gegeben. Was auch immer sie erreicht haben – ob sie den Mount Everest bestiegen haben, den Hunger besiegt haben oder ein Weltenherrscher geworden sind – nichts davon bedeutet etwas.

Aus dieser Sichtweise heraus ist die gesamte Lebensspanne eines Menschen nichts weiter als ein flüchtiger Moment; eigentlich nicht einmal ein Moment, nicht einmal eine Nanosekunde – sie ist so kurz, dass wir sie nicht einmal als stattgefunden bezeichnen können.

Nachdem wir über diese Sicht zur menschlichen Existenz gesprochen haben, lasst uns für einen Moment zu Śāntidevas Blitz zurückkehren: Es ist wahr, dass aufgrund unseres menschlichen Zustands – der Begrenztheit der Leistung unseres Sehvermögens und des damit verbundenen Bewusstseins – die Erfahrung, die wir von einem Blitzstrahl haben, sehr flüchtig ist. Wäre unser Sehvermögen jedoch etwas anders, könnten wir den Blitz verlangsamen, wie eine Superzeitlupenkamera; dann könnten wir diesen Sekundenbruchteil in Millionen von Bildern aufteilen. Wir könnten diesen Moment des Blitzes filmen und ihn eine ganze Minute oder sogar eine ganze Stunde lang abspielen (falls wir die nötigen Supergeräte dafür hätten) und hätten immer noch das Gefühl, dass das, was wir sehen, kein Standfoto, sondern ein bewegtes Bild ist.

Und genau das ist meiner Meinung nach der Luxus, den wir mit unserer menschlichen Lebensspanne haben, und dieser Luxus ist auf zwei Faktoren zurückzuführen: zum einen auf den Segen der Buddhas und zum anderen auf unsere Anhäufung von Verdienst.

Dank dieser beiden Ursachen empfinden wir dieses menschliche Leben, obwohl es in Wahrheit nur einen Augenblick – nicht länger als ein Blitz – dauert, nicht als vorübergehend. Wir sind in der Lage, es zu verlangsamen, es sozusagen in Zeitlupe zu leben, es in Abschnitte zu unterteilen: Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden... Wir sind in der Lage zu fühlen, dass wir leben und atmen; wir sind in der Lage zu spüren, dass wir diese und jene Erfahrung machen, dieses und jenes Erlebnis haben. Wir nehmen es als selbstverständlich hin, dass wir eine bestimmte Anzahl von Jahren zu leben haben; dass wir durchschnittlich 80 oder 90 Jahre alt werden.

Wir erleben unser Leben als lang und abenteuerlich, und das ist nichts weniger als ein Wunder. Und dieses Wunder ist auf nichts anderes zurückzuführen als auf diese beiden Ursachen von Verdienst und Segen.

Ich denke, es wäre wirklich interessant, wenn wir von Zeit zu Zeit über diese beiden Perspektiven unserer kostbaren menschlichen Existenz nachdenken könnten.

Wie es einerseits so winzig, so kurzlebig, so unbedeutend ist, dass wir nicht einmal sagen können, dass es wirklich geschehen ist; dass es sich wirklich ereignet hat.

Wie es aber andererseits so beeindruckend und wunderbar ist – gerade angesichts seiner Winzigkeit –, dass wir es als lang und abenteuerlich, als bedeutsam und sogar „überlebensgroß“ erleben können!

Ich denke, dass es zunächst einmal sehr interessant ist, über diese Aspekte nachzudenken, und wenn Ihr darüber hinaus das Gefühl habt, dass wir einen Grund für dieses Geschehen brauchen, dann könnt Ihr Euch auf das verlassen, was die Bodhisattvas der Vergangenheit gesagt haben: dass ein solches Ereignis nur dank der doppelten Ursache der Segnungen der Buddhas und Eures eigenen Verdienstes oder Eurer Anstrengung möglich ist.

Wenn Ihr Euch also auf diese beiden Punkte konzentriert und darüber nachdenkt – die interessante Natur dieses menschlichen Lebens und die Ursachen für sein Vorhandensein – dann werdet Ihr, wenn Ihr genug Zeit damit verbracht habt, darüber nachzudenken, ganz natürlich motiviert sein, zu versuchen, das Beste daraus zu machen.

Und der Weg, das Beste daraus zu machen, besteht darin, die Anhäufung von Verdienst voranzutreiben. Ihr werdet neugierig und wollt es selbst erforschen: „Wenn ich weiterhin Verdienst ansammle, was wird dann passieren? Wohin wird mich das führen?“

Mit anderen Worten, Ihr werdet motiviert sein, die Qualität Eures Lebens zu verbessern. Ihr werdet von Natur aus geneigt sein, zu praktizieren, sowohl formell als auch informell. Nicht notwendigerweise im Retreat, sondern in Eurem alltäglichen Leben, bequem von zu Hause oder von Eurem Arbeitsplatz aus.

Abschließend möchte ich Euch darauf hinweisen, dass ich mit dem Teilen dieser Überlegungen nichts von Euch verlange; ich gebe Euch keine Hausaufgaben auf, also fühlt Euch nicht verpflichtet.

Wenn ich Euch um etwas bitte, dann nur dies: Seid neugierig auf Euer menschliches Leben und seht selbst, wohin Eure Neugier Euch führen könnte.

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